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Montag, 7.6.2021

Liebes Tagebuch,

heute ist Montag, der 7. Juni, es ist 6:51 Uhr. Meine Zimmerfreundinnen schlafen noch, ich war gerade beim täglichen Wiegen, duschen und warte aufs Frühstück.

Das tägliche Wiegen ist immer eine zweischneidige Sache und mit viel nächtlichem Vorausgrübeln ab ca. 4:00 Uhr verbunden. In den letzten Tagen habe ich mich sehr gut gefühlt. Ich habe zum ersten Mal phasenweise richtig gute Laune und Antrieb verspürt. Ein Gefühl, das ich seit Jahren nicht kannte, wirklich. Das hat mich fast ein bisschen euphorisch gemacht.

Gleichzeitig ist das Wiegen immer so eine Sache. Irgendwo im objektiven Hinterstübchen geistert ein „Gewichtsvertrag“ herum. Ich weiß nicht, welche Konsequenzen es mit sich bringt, wenn ich das Ziel nicht schaffe. Sind dann alle wütend auf mich? Sehen mich als therapieunfähig und entlassen mich als „hoffnungslosen“ Fall? Das wäre meine große Angst, denn im Moment fühle ich mich noch wie eine Fünfjährige, körperlich und kognitiv, unfähig einen Alltag zu führen und ohne Unterstützung komplett aufgeschmissen. Ich will meine panische Mitarbeitsbereitschaft z.B. zeigen, indem ich das Reinigungspersonal frage, ob ich beim Bettenbeziehen helfen kann, mich beim Besuch im Rosengarten immer ab- und anmelde und versuche alles mitzuschreiben. Gestern waren es 600 g plus auf der Waage. Da wurde mir bei der Visite gesagt: „Das Gewicht geht in die richtige Richtung.“ Die Essstörung sagt mir daraufhin: „Der Tag ist gelaufen.“ Beim Telefonieren mit der Familie will ich die mir sehr unangenehme und für die Familie erfreuliche Nachricht meist möglichst zu Gesprächsbeginn „gestehen“ und dann schnell das Thema wechseln, weil das immer noch mit unguten Gefühlen verbunden ist.

Dienstag, 8.6.2021

Liebes Tagebuch,

ich bin um 5:55 Uhr zum Wiegen gegangen. Ich habe von gestern auf heute 500 g zugenommen. Mit dieser Botschaft war der Tag dann um 6:00 Uhr eigentlich schon wieder gelaufen. Jetzt fühle ich mich schwer, antriebslos, voll. Nach dem Wiegen war ich trotz der Angst etwas aufgedreht und euphorisch und habe gedacht, dass ich es verdient habe ausreichend zu essen und zu genießen. Heute fühle ich mich ein bisschen so wie nach einem schlechten Schularbeiten-Ergebnis und habe das Gefühl mir das Essen nicht so verdient zu haben. Der gestrige Antrieb und die Euphorie haben sich eher zu einem „Knödel im Hals“ verwandelt.

Neulich fragte mich die Psychotherapeutin: „Wenn du aufhören würdest zu essen und aufhören würdest zuzunehmen, weil du es wie du sagst nur für andere tust, was würde denn dann passieren?“ Meine Antwort lautete: Wenn ich aufhören würde zu essen und aufhören würde zuzunehmen, dann würde zunächst einmal mein Gewicht nicht ansteigen. Ich wäre wahrscheinlich zufriedener mit der Zahl auf der Waage. Mit der Zeit hätte ich wahrscheinlich ein körperliches Unwohlsein, Müdigkeit, Kältegefühl, Konzentrationsprobleme und keine Kraft. Weitere Folgen wären Unselbstständigkeit, fehlende Alltagstauglichkeit, nicht Weiterkommen im Leben, Ziellosigkeit. Ich würde wahrscheinlich länger im Krankenhaus bleiben, aber auch mehr Aufmerksamkeit, Zuwendung und Unterstützung bekommen. Gleichzeitig hätte ich ein schlechtes Gefühl, nicht brav zu sein oder meine Pflicht nicht zu erfüllen. Einerseits wäre ein Teil von mir sehr zufrieden und beruhigt. Andererseits hätte ich aber ein schlechtes Gewissen, weil andere mir vielleicht Mut zureden wollen und dabei keinen Erfolg verspüren, sich sorgen oder vielleicht so frustriert, wütend und enttäuscht sind, dass sie sich von mir abwenden. Ich glaube, dass das so die ersten Gedanken wären, wenn ich mir die Situation hypothetisch vorstellen würde.

Werde ich je zu Wohlbefinden finden können? Egal wie das tägliche Wiegen ausgeht, entweder fühle ich mich nervös-besorgt-euphorisch-aufgedreht oder ruhig-müde-antriebslos-voll-träge-enttäuscht (bei Zunahme). Ich hätte so gerne wieder den gestrigen Antrieb, da war der Tag irgendwie schön.

Mittwoch, 9.6.2021

Liebes Tagebuch,

komme gerade vom Wiegen und fühle mich (krankheitsbedingt leider) gut und zufrieden, weil die Waage etwas weniger als gestern angezeigt hat. Gleichzeitig bin ich in einem totalen Teufelskreis und bin seit Mitternacht am Sinnieren und gedanklich beim heutigen „Wiegestichtag“. Außerdem fühle ich mich schuldig, undankbar und als Versagerin, als Faulpelz und unverlässliche Person und habe allen bemühten Ärzten, Pflegern und Mitpatienten gegenüber, ein schlechtes Gewissen … Ich habe Angst die wöchentliche absolute Zunahme von 700 g nicht geschafft zu haben.

Ich kann es einfach noch nicht mit dem Herzen begreifen und würde so gerne meine Bereitschaft zeigen. Auf allen anderen Ebenen versuche ich das, indem ich fast meine ganze Energie dafür aufwende mir Notizen zu machen, höflich zu sein, Ordnung zu halten, etc. Aber diese fiese Selbstüberwindung mit der Zunahme ist eine Hürde. Da hätte ich jetzt lieber eine Zahnbehandlung bei der ich passiv daliege, aushalte und versuche, an etwas Schönes zu denken.

Jetzt muss ich mich wahrscheinlich nach der Visite in den Rollstuhl setzen – das ist vollkommen ok. Aber bei dem Gedanken eine zweite Trinknahrung pro Tag zu bekommen, wehrt sich echt alles in mir und bei jedem Schluck kommen mir Tränen. Ich fühle mich dabei wie so ein kleines trotziges Kind.

Bei dem nicht erreichten Wochenziel fühlt es sich so an, als würde ich im Schwimmbad am 5-m-Brett stehen und verdammte Angst haben. Unten stehen viele liebe Verwandte, die Krankenhausmitarbeiter und Freundinnen, die mir alle zurufen: „Du schaffst das, wir glauben an dich.“ Und letztendlich steige ich doch wieder die Leiter hinunter, bin heilfroh nicht springen zu müssen und gleichzeitig total enttäuscht. Wie hätte ich mich gefühlt, wenn ich mich überwunden hätte? Wäre es ein „Bauchfleck“ geworden? Wären die anderen jetzt stolz auf mich?

Andere versuche ich mit meinen Gedanken nicht hinunterzuziehen und spiele die Fröhliche. Gleichzeitig stimmt mich das aber ein bisschen traurig, weil hinter meinem Lächeln eigentlich hinuntergeschluckte Tränen stecken.

Donnerstag, 10.6.2021

Liebes Tagebuch,

als ich gestern Abend im Speisesaal war (da ist es immer am schwierigsten, dieses innere Engerl-Teuferl-Tauziehen) habe ich eine liebe Mitpatientin, die vor Kurzem gekommen ist, getroffen. Ich war eigentlich wieder einmal den Tränen nahe, habe aber trotzdem meine „Freundlichkeitsmaske“ aufgesetzt. Ich habe mich überwunden und gegessen, sie hat gemeint, sie sei eh zu stark gebaut und faste und esse nichts, aber ich solle essen. Dann hat sie gelacht. Das hat mich geärgert und verletzt und auch einige schlimme Erfahrungen aus der Vergangenheit geweckt. Am Abend ist sie allerdings im Gang auf mich zugekommen und ich habe mich dann getraut zu sagen, dass ich mit dem Essen Probleme habe und ihre Aussage negative Gefühle bei mir ausgelöst hat. Daraufhin hat sie mir angeboten, mir abends im Speisesaal Gesellschaft zu leisten. Das war sehr, sehr lieb. Sie hat mich glaube ich allerdings noch nicht ganz verstanden, da sie meinte, sie esse nichts oder vielleicht nur eine Kleinigkeit. Gerade darum geht es ja eigentlich. Mir würde es helfen, wenn sie sich etwas Gutes täte und äße.

Freitag, 11.6.2021

Liebes Tagebuch,

heute wieder 400 g mehr … Aber dafür habe ich gestern einige motivierende Erlebnisse haben dürfen, die ich, glaube ich, noch gar nicht ganz realisiert habe und die ich leider „mit dem Herzen“ noch nicht begreifen kann. In der Kommunikationsgruppe habe ich meiner Kollegin total zustimmen können, habe mich fast euphorisch gefühlt auf jemanden zu treffen, dem es ähnlich geht und der genauso fühlt und so ähnliche Situationen erlebt wie ich.

Ich habe hier immer Angst gehabt, dass mir unwissentlich die Speisen angereichert werden oder ich extra große Portionen erhalte. Als ich sah, dass meine Zimmerkollegin und ich dasselbe Menü bestellt hatten, habe ich die beiden Portionen verglichen und ihr beim Schüsserl mit dem Ragout jenes mit etwas mehr gegeben. Ich habe dann aber ein sehr schlechtes Gewissen gehabt, ihr Tablett angerührt zu haben und habe auch alles gleich wieder zurückgestellt. Diese Situation habe ich dann meiner Zimmernachbarin gestanden und sie hat mit viel Verständnis reagiert. Mir war das wirklich unangenehm, meine Zwänge nicht unterdrücken zu können. Dieser „Ehrlichkeitsmoment“ hat mir wirklich gutgetan und war befreiend, auch wenn es so eine Überwindung ist – als müsse man sich nackt ausziehen.

Freitag, 11.6.2021 (Abend)

Ich bin so sauer und frustriert und traurig! Ich habe allen anderen zu Liebe aufgegessen – so wie immer die Arschkarte gezogen, weil ich scheiß obrigkeitshörig bin … Und das während ich sehe, wie sich andere selbst bescheißen, essen verschwinden lassen usw. Ich habe mich wieder einmal mästen lassen und das ganze Faschierte aufgefressen. Da frage ich mich, wie kann ich mir selbst gegenüber, ein Leben lang nur so rückgradlos sein?

Wenn ich brav den Rollstuhl im Gang verwende und jemandem ausweichen will, fahre ich meist gegen die Wand und genauso fühle ich mich in den letzten Tagen metaphorisch auch immer. Im Moment ist einfach alles scheiße und ich will einfach nur weinen und schlafen. Ich selbst habe kein Ziel, weiß nicht, warum ich da bin und helfe reflexartig den anderen ihre Ziele zu erreichen. Beim Essen schwankt das dann ins Gegenteil. Ich fresse brav auf um Vorbild zu sein, während andere keinen Bissen nehmen und daraufhin eine nettere Behandlung bekommen. Dabei würde ich es anderen, die nicht essen, oft am liebsten heimlich einflößen. Ich weiß, dass ich mich für diese höchst lächerlichen Worte sehr schämen werde, aber im Moment muss ich mir das einfach ein bisschen von der Seele schreiben, damit ich schlafen kann.

Samstag, 12.6.2021

Liebes Tagebuch,

heute komme ich zum ersten Mal seit Tagen mit recht guter Laune vom Wiegen! Ich habe jetzt trotz großer Menge an dazwischen entleertem Stuhlgang über zwei Tage das Gewicht gehalten und darf somit laut Absprache mit der Ärztin (hoffentlich) aus dem Rollstuhl!! Das erste Ziel wäre erreicht. Mein nächster Wunsch wäre es, die Trinknahrung ab nächster Woche (am Wochenende von zwei auf eine pro Tag reduzieren) wegzulassen, wenn das Gewicht übers Wochenende bleibt und ich zunehme. Mir ist noch nicht ganz bewusst, was ich dafür tun kann?

Meine Laune ist jedenfalls nach dem Wiegen nun deutlich besser und ich habe gerade seit einigen Tagen wieder einen „Lichtblickmoment“. Ich hoffe wirklich, das hält an, da in den letzten Tagen eher die Tränen dominiert haben und ich dann in solchen Situationen nicht aus dem „Krankenstrudel“ (Bild der Essstörung) herauskomme. Ich habe bisher kaum bis selten das Gefühl gehabt, etwas Positives FÜR MICH erreicht zu haben.

Samstag, 12.6.2021 (Abend)

Liebes Tagebuch,

ich habe heute bei der Visite gerade einen wunderbaren Erfolgsmoment erlebt. Weil ich mein Gewichtsziel erreicht habe, darf ich nun vorläufig aus dem Rollstuhl heraus und darf es ohne Trinknahrung probieren. Das hat mich richtig motiviert und war ein erstes Erfolgserlebnis!!!!

Meine Zimmerfreundin war etwas verständnislos, weil sie nun zwei Trinknahrungen trinken soll (sie isst ja auch nicht). Daraufhin habe ich ihr erklärt, dass ich ja einen Ernährungsplan mit der fünffachen Menge habe, während sie nur zwei Bissen von der Hauptspeise isst und beim Rest, nun ja, nicht ehrlich ist. Ich habe ihr gesagt, dass auch sie es schaffen kann, sobald sie ehrlich mitarbeitet und aufisst. Ich will sie ja unterstützen. Heute ist es mir aber auch zum ersten Mal gelungen, mich etwas abzugrenzen. Ich will, dass sie es schafft, fühle heute aber gleichzeitig ein wenig „Gerechtigkeit“, weil ich sozusagen meine Hausaufgaben erledigt habe und nun dafür belohnt werde. Belohnt werde, gegessen zu haben, bis mir schlecht war und ich den Rest des Tages nur frustriert und wütend war. Der heutige kleine Erfolg hat mir gezeigt, dass ehrliche Zusammenarbeit ein Stück weit zu Wohlbefinden führen kann und das motiviert mich. Mein großer Wunsch wäre es, den Plan ohne Trinknahrung beizubehalten. Ich will in meiner Anfangseuphorie jedoch nichts verschreien und werde mich natürlich gedrückt und enttäuscht fühlen, sobald ich das Ziel nicht schaffe und wieder im Rollstuhl sitze und zwei Trinknahrungen trinken muss.

Das erste Mal habe ich durch diese Belohnung das Gefühl, mir SELBST einen Wunsch erfüllt zu haben. Ich habe den Eindruck, dass meine Worte gerade sehr egoistisch und empathielos klingen und hoffe, bald ein Mittelmaß finden zu können.