Montag, 14.6.2021
Liebes Tagebuch,
über Nacht habe ich die zweistündigen Vitalwertmessungen meiner Zimmerfreundin mitbekommen und habe mir heute in der Früh große Sorgen gemacht, als sowohl Blutzucker- und Pulswerte sehr niedrig waren. Gestern war sie sehr traurig und hat gesagt, sie fühlt sich beim Essen als Versagerin. Ich sehe neben mir einen sehr jungen Menschen, dem jegliche Lebenskraft verloren gegangen ist und der kaum noch den Kopf heben kann. Ich würde mir unglaubliche Vorwürfe machen, nicht alles für ihr Überleben getan zu haben. Ich will sie nicht bedrängen und setze mich beim Essen jetzt immer mit dem Rücken zu ihr hin, damit sie sich nicht überwacht vorkommt und habe gleichzeitig Angst, dass ihr Körper das nicht schafft. Wenn ich sie so sehe, sehe ich ein wirklich sehr schwaches Lebensflämmchen. Das erinnert mich sehr an die Situation mit meiner Schwester. Ich wollte ihr einerseits gut zureden, habe sie dadurch andererseits aber zu sehr unter Druck gesetzt, wodurch sie sich unverstanden gefühlt hat. Gleichzeitig verspüre ich den Zwang, immer etwas Positives zu sagen. Meine Zimmerkollegin soll nun zwei Trinknahrungen pro Tag trinken, kann diese aber wegen der relativen Bettruhe nur im Zimmer trinken. Das Pflegepersonal bittet mich daher sie „zu beaufsichtigen“. Es fühlt sich für mich so an, als würde ich zumindest einen kleinen Teil Verantwortung tragen, damit sie die Nacht überlebt.
Mit der heutigen Gewichtszunahme und dem starken Völlegefühl, fühle ich mich wieder müde und fett, aufgebläht und „hängebauchschweinmäßig“. Ich traue mich selber oft nicht, meine Sorgen auszusprechen, weil da die Hemmungen zu groß sind und ich mich schäme. Dadurch glauben die meisten, ich sei eh so ein positiv denkender, vernünftiger Mensch, in Wirklichkeit weiß ich allerdings selber nicht, warum ich hier bin, was mein Problem ist und was ich tun kann bzw. was meine Aufgabe hier ist. Ich habe das Gefühl, irgendwie persönlichkeitslos zu sein und ohne jeden Erfolg für andere da sein zu wollen, das frustriert mich.
Dienstag, 15.6.2021
Liebes Tagebuch,
das unangenehme Gewichtsthema nach dem Wiegen will ich immer gleich hinter mich bringen: Das Gewicht ist (für mich einigermaßen beruhigend) von gestern auf heute genau gleichgeblieben (trotz der ganzen Portion und vollen Kohlenhydratladung Hirseauflauf und trotz des fetten Lachs). Ich fühle mich durch die weggelassene Trinknahrung weniger unter Druck. Aufgrund des Essens aber auch sehr „angegessen“.
Ich habe trotzdem den Eindruck, nur für die Anderen alle sechs Mahlzeiten aufzuessen, um zu zeigen, dass ich brav bin. Ich würde mich echt wohlfühlen, weiterhin ohne Trinknahrung sowie Psychopharmaka auszukommen und ohne eine zu schnelle Gewichtszunahme. Ein Stück Wohlbefinden gibt mir Zuversicht und Mut.
Was mir nach wie vor Sorgen bereitet ist meine Zimmerfreundin. Gestern ist es mir besser gelungen, mich abzugrenzen. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass sie jetzt eine Nasensonde bekommt. Ich kann ihr ihren inneren Widerwillen gut nachfühlen und bin aber froh, dass das Krankenhaus jetzt die nächsten Tage die Verantwortung und Begleitung dafür übernimmt. Die Tage davor bin ich in den frühen Morgenstunden weinend und frustriert im Bett gelegen. Ich bin da in einem unglaublichen Zwiespalt. So wie ich als nebenstehende Bettnachbarin, medizinisch und psychologisch ohne jegliches Wissen, die Situation wahrnehme ist: Neben mir liegt ein 18-jähriges Mädchen im Sterben. Sie hat ein eingefallenes Gesicht, keine Kraft den Kopf zu heben oder sich zuzudecken, geschweige denn, sich um hinuntergefallene Gegenstände zu bücken. Der Blutzuckerspiegel und Puls sind im Keller, das Stimmchen ist schwach und die Blicke langsam. Manchmal bin ich mit ihr alleine im Zimmer und habe Angst, etwas falsch zu machen. Ich habe Angst in ein paar Tagen feststellen zu müssen, dass neben mir ein blutjunger Mensch verstorben ist und ich durch eine kleine Handlung vielleicht irgendetwas daran ändern hätte können.
Die Lösung wäre, dass sie isst. Aber wie bringe ich sie dazu? In letzter Zeit habe ich mich neben ihr absichtlich (frustriert) gemästet und mich hinterher wie ein Hängebauchschwein gefühlt. Daraufhin habe ich mich geärgert, immer für andere da sein zu wollen (ohne Erfolg, sie rührte beim Essen keine zwei Bissen an). Dann habe ich irgendwie den Zwang sie „kontrollieren“ zu wollen. Ich kenne das ja von meinen früheren stationären Aufenthalten. Da habe ich fürs Ernährungsprotokoll das Essen manchmal zusammengeschoben, damit es so aussieht, als hätte ich mehr gegessen oder die Hälfte der hochkalorischen Getränke weggeschüttet.
Heute habe ich viele liebe und ehrliche Begegnungen gemacht. Beispielsweise bei der Entspannungstherapie mit einer lieben blonden Dame. Sie hat mir den Tipp gegeben, auf die TherapeutInnen hier zu vertrauen und nicht zu verhandeln. Mit der Psychotherapeutin habe ich ganz befreit reden können. Sie hat gesagt, DASS JEDER FÜR SICH VERANTWORTLICH IST, DASS DAS LEBEN AUF MICH WARTET UND DASS ICH FÜR MICH ESSE.
Ich habe heute versucht offen und ehrlich zu sein und mich abzugrenzen, also nicht den anderen zuliebe zu essen, sondern für mich. Jeder ist für sein Leben verantwortlich, aber wenn ich nicht essen WÜRDE, würde ich körperliche Auswirkungen spüren und in weiterer Folge irgendwann sterben. Ich will leben!! Diese Entscheidung wird nur insofern beeinflusst, als dass die Essstörung immer wieder „ihren Senf dazugibt“.
Mittwoch, 16.6.2021
Liebes Tagebuch,
vorab wieder ein kleiner physischer Bericht: Von gestern auf heute habe ich 300 g zugenommen, also die von der Ärztin vorgegebenen 100 g von gestern auf heute in dreifacher Menge eingehalten. Im Moment spüre ich ein ziemliches Völlegefühl in Magen und Darm. Stimmungsmäßig bin ich nach dem Wiegen und der Gewichtszunahme (zwischen Tiefst- und Höchstgewicht sind es heute genau 3 kg) müde und erschrocken.
Für heute versuche ich es umzusetzen, in Ruhe früher mit dem Frühstück anzufangen. Die letzten Tage habe ich immer auf die anderen gewartet, um sie zu motivieren bzw. nicht unhöflich zu sein. Ich bin dann aber immer mit Stress in den Tag gestartet, während die anderen nach einem schnellen Frühstück um 8:00 Uhr zum Morgensport gegangen sind, wo ich leider noch nicht hindarf. Ist das eine gute oder schlechte Entscheidung? Ich bin bei Entscheidungen immer sehr, sehr unsicher. Was Tipps betrifft, bin ich daher so so so dankbar und will jede Chance wirklich zu 100 % nutzen. Gleichzeitig höre ich oft gegenteilige Dinge, das verunsichert mich ziemlich. Ich will mich einfach gesund ernähren, nicht dick werden, mich fit und vital fühlen … Aber wie geht das? Leider kenne ich das „Erfolgsrezept“ dazu noch nicht.
Ich habe das Gefühl im letzten Jahr ist jeder Tag einzeln an mir vorübergezogen und ich habe den Blick „fürs Ganze“ verloren. Ich habe jetzt überhaupt keine Ziele und kenne mich nicht.
Meine liebe Zimmerfreundin tut mir sehr leid. Sie hat kaum Lebensmut und leidet sehr, isst fast nichts und hat starke Magenschmerzen.
Freitag, 18.6.2021
Liebes Tagebuch,
gestern war ein ereignisreicher Tag. Ich konnte nur zwei Stunden schlafen, da ich vor dem Familiengespräch mit Papa und der Ärztin sehr nervös war. Meinen Papa habe ich doch schon vier Wochen nicht mehr gesehen, obwohl wir täglich telefonieren. Mir ist in der Nacht vieles durch den Kopf gegangen und ich habe gehofft, beim Gespräch keine Hemmungen zu haben, aber das gelingt einmal besser und einmal schlechter. Die Gewichtsschwankungen lassen mich weiterhin unrund laufen und ich habe das Gefühl beim Wiegen als Verliererin herauszugehen. Entweder ich bin total nervös vor der Visite und den maßregelnden Konsequenzen bei einer Gewichtsabnahme (Rollstuhl, Trinknahrung) oder ich fühle mich einfach schrecklich, weil ich 700 g an einem Tag zugenommen habe. Wird das jetzt linear so weitergehen? Das wären dann fast 5 kg in einer Woche. Das will ich ganz und gar nicht. Ich fühle mich einfach nur müde heute.
Beim Familiengespräch mit Papa war er glaub ich über die Veränderung etwas … nun ja … nicht enttäuscht, aber ich glaube, er hätte sich schon „ein bisserl volleres Gesicht“ gewünscht. Mit der heutigen Zunahme fühle ich mich wieder mies. Es war schön Papa nach einer so langen Zeit wieder zu sehen. Beim Gespräch über mein zwanghaftes Verhalten konnte ich nicht ganz zu Wort kommen, weil ich nicht unterbrechen wollte und dann vieles, was ich einwerfen wollte, vergessen und nicht gesagt habe.
Nach dem Gespräch kam der Therapiehund und ich habe mich im Sesselkreis richtig wohl, unbewertet, glücklich, im Moment, offen und motiviert gefühlt. Das war ein schönes Geschenk!!! Ein sehr schöner Moment.
Einen weiteren Glücksmoment habe ich mit meiner Zimmerfreundin erlebt. Wir haben morgens ausgemacht, dass wir uns gegenseitig nicht kontrollieren und unsere Ernährungstherapiepläne eigenverantwortlich einhalten und auch zu unterschiedlichen Zeiten essen und das war unglaublich befreiend. Bei ihr ist der „Knoten aufgegangen“, wie sie sagt und ich hoffe, das ist ein Ausspruch von Herzen. Sie will zurück ins Leben und hat sich über eine Gewichtszunahme von 400 g gefreut. Das hat mich motiviert. Ich ziehe den Hut vor ihrer Reife und es war schön, sie erstmals glücklich zu sehen.
Samstag, 19.6.2021
Liebes Tagebuch,
das unangenehme Thema „Gewicht“ vorweg: der Gewichtsverlauf in den letzten Tagen war wie auch davor schwankend. Die Schwankungen sind sehr unangenehm für mich (heute weniger ungut, weil Abnahme).
Dann habe ich einen schönen Tag verbracht und mit Energie drei Schüsserl (Müsli- oder Obstschüsserl) getöpfert, auf die ich mich schon freue. Das Tonstreichen war sehr angenehm, hat nicht übermäßig viel Konzentration erfordert und ich habe mich motiviert gefühlt, ein greifbares Resultat mit nach Hause zu nehmen.
Die Einheit mit dem Therapiehund war auch wieder ein schönes Erlebnis. Da hat es auch gereicht, einfach da zu sein. Ein Hund denkt sich nicht: „Die ist unhöflich und wortkarg und führt keinen Smalltalk.” Er bewertet niemanden. Im Sesselkreis waren alle gleichwertig. Wir waren einfach alle da, ohne uns rechtfertigen zu müssen.
Dann habe ich mich sehr für den „Bekehrungsmoment“ meiner Zimmernachbarin gefreut. Sie will endlich wieder ein Leben führen und aus dem körperlich schlechteren Zustand als der ihrer Großeltern rauskommen. Mir gelingt die Krankheitseinsicht noch nicht. Wie kann ich das schaffen? Wie kann ich gesund werden wollen? Wie kann ich überhaupt lernen was gesund ist?
Wir haben beide den Drang unsere Essensmenge gegenseitig zu vergleichen. Die Diaetologin sagt: „Jeder Stoffwechsel und jeder Körper ist anders.“ Sie weiß für jeden was gut ist, weil sie es studiert hat. Wenn ich etwa wüsste, dass beispielsweise Haferflocken super gesund wären und acht Schüsseln Haferflocken pro Tag zu keinem Gramm mehr Gewicht führen würden, könnte ich diese ohne Bauchweh und Übelkeit, sogar mit Freude auf einmal essen.
Mache ich das eigentlich für mich, oder mache ich den Aufenthalt für andere??? Zu einer neuen Kollegin habe ich gesagt: „Du wirst sehen, von Tag zu Tag bekommst du mehr Energie. Mit jedem Bissen kommst du deiner Zukunft ein Stück näher.“ Gilt das nur für sie oder für mich auch?? Ich bin da noch unsicher.
Sonntag, 20.6.2021
Liebes Tagebuch,
auf meine Frage, warum ich eigentlich hier bin, sagte die Psychotherapeutin: „Weil du bei deiner Ankunft ein viel zu niedriges Körpergewicht hattest und weil du für ein Normalgewicht ca. 20 kg zunehmen musst.“ Deshalb bin ich da.
Ich fühle mich jetzt besser als vor 2 Wochen, weil ich mehr Gewicht habe. Der Körper hat daher mehr Energie und bis ich in den Bereich komme, wo ich müde, träge und dick bin, kann ich angeblich noch locker 20 kg zunehmen.
Einerseits ist es toll von vielen ähnlich Fühlenden umgeben zu sein. Andererseits kann es auch Nachteile haben, was das Abschauen von negativen Verhaltensweisen (sich mit anderen Vergleichen, im Essen herumstochern etc.) betrifft. Ich habe meine Kollegin gefragt, ob ihr so etwas auch manchmal ein schlechtes Gefühl vermittelt und daraufhin meinte sie, dass sie sich häufig dabei erwischt ihren Körper mit denen der anderen Patientinnen zu vergleichen.