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Montag, 21.6.2021

Liebes Tagebuch,

jetzt bin ich schon 5 Wochen stationär und habe mir gestern bei einem Musikhör-Aufenthalt im Freien überlegt, was ich mir bisher so an positiven Dingen mitnehme. Ich habe die Psychopharmaka absetzen dürfen. Das war schon immer ein großer Wunsch von mir und ich bin in den letzten Tagen und Wochen sogar viel entspannter, was den Kontakt mit Menschen betrifft. Da wünsche ich mir inständig, dass das so bleibt.

Meine Tagebucheinträge sind etwas länger geworden bzw. habe ich hier überhaupt erst in den letzten drei Wochen so richtig zum Schreiben begonnen. Ich glaube, ich habe einfach ein bisschen mehr Energie zum Denken und Schreiben.

Auch ein bisschen Wortwitz und Humor sind in weniger angespannten Situationen, in denen ich mich angenehm energiegeladen fühle, ein Stück weit zurückgekehrt. Allerdings schwankt das. Nach dem Verzehr von Fleischlaberl und einer ganz großen Portion Risotto-Reis, bin ich absolut nicht in witziger Stimmung. Hier habe ich hinterher bestimmt drei Stunden gegrübelt. Tage später aber, als es mir nach dem Frühstück (da fühle ich mich am besten) sehr gut ging, habe ich tatsächlich lachen müssen über meinen mittäglichen „Fleischlaberl-Nervenzusammenbruch“ und meinen „Reis-Sorgen“ 🙂

Einmal habe ich gute Stimmung und einmal schlechte – das wird noch stark von den Themen „Gewicht und Essen“ beeinflusst. Zukunftspläne haben leider noch gar keinen Platz, auch nicht für die nähere Zukunft. Was will ich eigentlich?

Kleine Fortschritte beim Fühlen merke ich. Zum Beispiel, dass mir auffällt, wenn sich Schweißperlen auf meiner Hand bilden.

Energiemäßig geht es mir bereits deutlich besser als vor vier Wochen. Das Duschen ist keine Überwindung mehr, das Sockenanziehen geht in einem Zug, Stiegen steigen geht ohne Festhalten am Geländer und auch Wasser- und Trinknahrungsflaschen werden von mir höchst persönlich „geknackt“. Ebenso kann ich jetzt einhändig Türschnallen öffnen, das Handy-Ladekabel einstecken und das Essenstablett bis ins oberste Fach (!) des Geschirrwagen heben. Ich habe einfach mehr Antrieb. WORAN LIEGT DAS UND WIE KANN ICH DAS WEITERHIN FÖRDERN?

Dienstag, 22.6.2021

Liebes Tagebuch,

der heutige Tag hat wiegebedingt (Gewichtszunahme um 800g!) schon einmal missmutig und verzweifelt angefangen. Ich habe gleich um 6:30 Uhr den Heimanruf gemacht, um die für mich ungute Nachricht an Papa, Omi und Opi weiterzugeben und das hinter mich zu bringen, damit ich dann das Frühstück genießen kann. Es ist halt immer schwierig, wenn dann am anderen Ende der Leitung bei Omi nur Schweigen zu hören ist. Mir ist wichtig, dass sie ehrlich sind. Es verunsichert mich, wenn sie gar nicht reagiert. Papa hat mich gelobt, aber da ich irgendwie mit dem falschen Fuß aufgestanden bin glaubt er jetzt, meine Tagesverfassung ist nicht gut. Das frustriert mich.

Dann war die Diaetologin da und hat mir auf meine Frage bzgl. dem Wunsch einer Liste mit gesunden Lebensmitteln wieder nicht geantwortet. Sie meinte nur, dass ich mich daran erfreuen solle was Gott hat wachsen lassen. Das frustriert mich, da ich seit mindestens drei Jahren auf der Suche nach Hilfe und Antworten bin und mich jetzt wieder im Regen stehen gelassen fühle. Bei der anschließenden Visite ist schon ein Heimgehen nächste Woche angesprochen worden und jetzt habe ich Angst wieder alleine dazustehen. Das macht mich weinerlich und trotzig.

Bei der Physiotherapie haben wir besprochen, dass ich eigentlich nie wirklich eine Persönlichkeit mit Vorlieben und Interessen entwickelt habe und besonders nach Mamas Tod gefühlstaub geworden bin. Schon als 4-Jährige war „Gelb“ die Antwort auf die Frage nach meiner Lieblingsfarbe und das nur deshalb, weil ich als positiv denkender Mensch gesehen werden wollte. Selbst meine heutigen Hausschuhe gefallen mir nicht und ich trage sie nur, weil sie mir von Omi geschenkt wurden und sie so von der Hochwertigkeit und dem ergonomischen Fußbett schwärmt … Das sind nur Beispiele, aber ich kann keine Interessen oder Vorlieben spüren, weiß nicht, was mich interessiert oder welche Farbe, Musik, Themen, Hobbies mir gefallen. Ich weiß nicht so recht, wie es sich anfühlt “richtige Entscheidungen” zu treffen… Was macht mich aus? WER BIN ICH???

In der Ergotherapie habe ich letztens eine Tonschüssel gemacht, die mir leider in den letzten Metern zerbrochen ist, weil sie zu dünn und fragil war. Heute habe ich ein neues Schüsserl mit mehr Material gemacht. Vielleicht kann ich daraus ja eine Metapher für mich formulieren, dass ich es trotz Fehlversuch noch einmal probiert habe und hoffe, dass dieses Schüsserl stärker und nicht so fragil (wie ich es bin) ist??

Mittwoch, 23.6.2021

Liebes Tagebuch,

als gestern der Therapiehund hier war, war ich so entspannt, dass ich mich gleich zu ihm auf den Boden gesetzt habe und mich ohne Anspannung abschlecken habe lassen. Einfach schön! Früher hätte ich sowas nicht geschafft. Da hatte ich „Schmutzzwänge“ – sogar bei Lebensmitteln. Das hat sich so geäußert, dass ich mir während des Essens mit den Händen (Brot, Obst, Gemüse) oft die Hände gewaschen habe. Das ist jetzt auch besser und ich versuche sitzen zu bleiben, bis ich fertig gegessen habe.

Das Frühstück ist in letzter Zeit überhaupt entspannter geworden was das Esstempo, den Zwang, das Essen genießen, etc. betrifft. Zu Mittag und am Abend habe ich allerdings immer noch das Gefühl, ich muss für andere (Essbegleitung etc.) alles aufessen, auch wenn ich danach unangenehm voll bin. Mir wäre da lieber, wenigstens einen Tag nach Wohlbefinden und Freude essen zu dürfen, ohne dieses „du musst, sonst gibt es Konsequenzen“. Das ist nicht förderlich, weil ich dadurch nicht begreife, es für mich zu tun und das frustriert mich. Generell habe ich zu Hause auch immer, wegen der Lebensmittelverschwendung, das Problem alles aufzuessen und nichts wegzuwerfen. Das stresst mich, weil auch hier im Krankenhaus meist mehr Brot und Haferflocken mitgeliefert werden, als am Plan steht.

ICH HABE GROßE ANGST ENTLASSEN ZU WERDEN – GEMÄSTET. ICH HABE ALSO MEINEN TEIL DER ABMACHUNG ERFÜLLT, ABER OHNE, DASS MEINE WÜNSCHE IM GEGENZUG ERFÜLLT WURDEN (GESUNDER ERNÄHRUNGSPLAN, LISTE MIT GESUNDEN LEBENSMITTELN, BERUFS- UND INTERESSENSBERATUNG, MICH FINDEN)!

Erkenntnis von gestern: Eine Sache, die mir guttut ist bei lauem Sommerwind in der Früh oder am Abend mit Kopfhörern Popmusik zu hören und zu spazieren. Die Musik hat mir ein bisschen Mut gemacht und vielleicht einen Hauch von sekundenlangen postpubertären Trotzanflug ausgelöst. Um in Musiktiteln zu sprechen „Lass die Leute reden“. Kurz danach war der Zauber aber auch schon wieder vorbei. Es wäre schön ein paar „Skills“ mit nach Hause nehmen zu können, aber ich habe noch keine. WIE FINDE ICH DIE? Ich bin echt dankbar für den Aufenthalt hier und will ihn bestmöglich und möglichst lange ausnutzen. Ich bin gerne hier. Um an die Musik anzuschließen: „Ich bin gekommen um zu bleiben.“ 🙂

Donnerstag, 24.6.2021

Liebes Tagebuch,

von Mittwoch auf Donnerstag habe ich 300 g zugenommen. Ich habe mich erst „gefreut“, weil ich dachte, dass ich deshalb keine Trinknahrung mehr bekommen muss (Vereinbarung ab Erreichung eines bestimmten Körpergewichts). Zu Mittag ist meine Ärztin dann aber auf mich zugekommen und hat mir gesagt, dass ich sie trotzdem trinken muss. Nachdem ich heute tagsüber ein paar Erfolgserlebnisse gehabt habe, kann ich es ohne Nervenzusammenbruch hinnehmen. In der Früh habe ich eine Blutkontrolle gehabt, das hat leider erst bei der vierten Person funktioniert, aber schließlich doch und das war das erste positive Tageserlebnis. Viel zu oft habe ich schon erlebt, dass einfach kein Gefäß gefunden wird bzw. das Blut dann nicht richtig fließt. Außerdem habe ich heute dem Sozialarbeiter meine Anliegen (Interessens- und Studienfindung) und Familiensituation erklären dürfen und er meinte, dass er sich schlau machen werde.

Freitag, 25.6.2021

Liebes Tagebuch,

heute bin ich sehr entspannt in den Tag gestartet. Das gestrige Dinkelbrot backen hat mir ein klein wenig Selbstvertrauen gegeben. Die Sonne scheint und nach dem Frühstück habe ich mich sehr gut gefühlt. Zurzeit sind wir zu dritt im Zimmer. Bezüglich meiner zwanghaften Züge hat mir die Ärztin mit einem Medikament und einer zweiten Trinknahrung “gedroht”, was mich beides in die Verzweiflung treibt und mir Tränen in die Augen schießen. Ich muss zunehmen, sonst werde ich bestraft. Das macht mir echt großen Druck!!!! Ich will mich einfach wohlfühlen, Haferflocken essen, entspannt sein und keine Psychopharmaka bekommen. Ich habe bereits schlimme Erfahrungen mit solchen Medikamenten gemacht, war nur depressiv, bin apathisch und todmüde am Sofa gesessen und habe keinen Antrieb gefunden. Nach ca. fünf Tagen habe ich begonnen, das Medikament im Klo hinunterzuspülen. Der zuständige Psychiater hat das nicht gewusst und gemeint, er merke, dass mir die neue Medikation guttue und ich zugänglicher bin … Vor dem Wiegen morgen habe ich echt Angst!!!! Meistens lieg ich dann ab 4:00 Uhr morgens wach und mach mir Gedanken, wenn… dann…

Samstag, 26.6.2021

Liebes Tagebuch,

die Ärztin wird heute einmal in der Früh vorbeischauen, bevor sie nach Hause fährt und ich hoffe, dass ich zu keinen Psychopharmaka und keiner zusätzlichen Trinknahrung gezwungen werde. Wieso schaffe ich es nicht meine Wünsche einfach höflich, aber direkt auszusprechen und weiche immer auf ein „Also, wäre es vielleicht unter Umständen möglich … “ aus? Mir gelingt es einfach nicht klar zu kommunizieren und ich weiß nie, wann ich mich rechtfertigen muss oder soll. Das frustriert mich.

Generell bin ich heute nach der Gewichtszunahme und der Verstopfung eher grantig und mir ist nicht so recht nach Reden. In diesem Fall ist es mir eh lieber Papa über die Gewichtszunahme schriftlich zu benachrichtigen, weil das Telefonieren am Handy momentan nicht funktioniert. Er wird es dann Omi und Opi weitergeben und ich muss nicht das Schweigen von Omi aushalten. Ich telefoniere sehr gern mit ihnen, wenn ich gut gelaunt bin, aber heute bin ich frustriert und alles ärgert mich. Wenn ich in diesem Zustand mit Papa telefoniere, macht er sich Sorgen und glaubt, dass es mir psychisch nicht gut geht. Omi sagt mir immer: „Du musst positiv denken! Du musst selber gesund werden wollen!“ Das zipft mich echt an.

Samstag, 26.6.2021 (Nachmittag)

Liebes Tagebuch,

kennst du das? Der Tag hat schlecht angefangen und diese „Graubrille“ kriegt man dann schwer von den Augen und sieht nur das Schlechte: Erst habe ich von gestern auf heute 0,7 kg zugenommen (das sind nun insgesamt 4 kg mehr als mein Minimalstgewicht und 4 kg frustrieren mich). Daher fühle ich mich mega müde, klobig, fett und träge – eigentlich haben sich alle meine Befürchtungen erfüllt …

Meine beiden Zimmernachbarinnen haben mir gesagt, dass ich mit mehr Gewicht hübsch wäre. Das habe ich sehr berührend gefunden. Gleichzeitig hat sich die Zuwendung und die Aufmerksamkeit ungewohnt angefühlt, weil ich normalerweise die bin, die aufbauende Worte an andere richtet und die eigenen Sorgen und Probleme niemandem anvertraut.

Nach dem Mittagessen habe ich wieder so ein Heißhungergefühl (schmecken wollen, obwohl ich satt bin; essen, um meine Frustration über die Zunahme wegzustecken). Das macht mich verzweifelt, weil mich das an mein 18-jähriges, doppelt so viel wiegendes, nachts Unmengen an Süßigkeiten stopfendes Ich erinnert. Hilfe! Jedenfalls höre ich heute auf Überlautstärke mit Kopfhörern Musik, um mich von der Verzweiflung abzulenken.

Ein Pfleger hat zu mir gesagt, dass er hofft, dass das zugenommene Gewicht bleibt. Er sagt, dass 700 g viel für mich sind. Das treibt mir wieder Tränen in die Augen, aber ich will ja, dass er ehrlich ist. Ich muss leben wollen. Auf die Frage, wie man leben will, hat er gesagt: „A bisserl essen, sonst verhungerst irgendwann.“ Ich esse ja eh, könnte gar nicht ohne, aber trotzdem sind mir diese Zusammenhänge nicht ganz bewusst, ich muss es einfach immer wieder hören und hoffe, dass es mir irgendwann bewusst wird. Wenn das aber mit so viel Unwohlsein verbunden ist wie heute, kann ich einfach nicht glücklich sein.

Die Ärzte haben zumindest innerhalb der letzten Stunde meine Stimmung etwas gehoben. Ausnahmsweise meine ich damit nicht die medizinischen Experten (denen ich unheimlich dankbar bin!), sondern die Band „Die Ärzte“. Ist halt kein Beethoven, aber die Texte finde ich irgendwie pointiert und zu meiner Frustration passt eben gerade kein Piano. Dabei bin ich über ein Lied gestolpert, von dessen Text ich mich teilweise sehr angesprochen gefühlt habe. Es heißt „Lied vom Scheitern“. Der Titel klingt pessimistisch, der Text ist es aber keineswegs.

Sonntag, 27.6.2021

Liebes Tagebuch,

heute habe ich mich in der Früh körperlich wohl gefühlt, war gut gelaunt und habe gut geschlafen.

Bei der Visite war die Ärztin nicht sehr zufrieden. Sie meinte, dass mehr weitergegangen sein sollte in den bisherigen 6 Wochen. Ich bekomme nun wieder eine zweite Trinknahrung und eventuell ein Psychopharmakon … Da sind mir die Tränen gekommen und ich war sehr verzweifelt. Mit dem Medikament fühlte ich mich damals echt mies, war den ganzen Tag apathisch, depressiv, weinerlich und antriebslos. Außerdem habe ich im Internet gelesen und auch von Mitpatienten gehört, dass man davon bis zu 20 kg zunimmt und Heißhungerattacken bekommt. Wie soll mir das helfen?

Mittlerweile habe ich versucht ein bisschen „runterzukommen“. Ich habe durch das Weinen bei der Visite kaum ein Wort herausgebracht. Ich habe versucht, mir zu vergegenwärtigen, dass eine Gewichtszunahme unumgänglich ist. Diese will ich auch auf alle Fälle erreichen, aber mit Wohlbefinden und „Geschmack“ (nicht über Medikamente oder eine Nasensonde).

Meine ältere Zimmerfreundin hat mitbekommen, was passiert ist und gesagt, dass ich, wenn ich weiter abnehme, sterbe und dass ich ja leben will. Sie wünscht mir, dass ich mich über eine Zunahme freuen kann und DASS ICH IN DER PSYCHOTHERAPIE UNBEDINGT ANSPRECHEN SOLL, DASS MIR DAS NOCH SCHWER FÄLLT.