Montag, 28.6.2021
Liebes Tagebuch,
das Wiegen war für mich heute zumindest nur eine „sehr kleine Katastrophe“, da ich mich körperlich wohler fühle als bei den anderen Zunahmen.
Heute wird eine meiner Zimmernachbarinnen nach Hause gehen. Sie hat liebe Worte an mich gerichtet und gesagt, dass sie mir wünscht die Essstörung bald zu überwinden.
Mittwoch, 30.6.2021
Liebes Tagebuch,
gestern habe ich mich echt frustriert, traurig, enttäuscht, missverstanden und auch wütend gefühlt. Es war wieder in der Gruppenvisite. Ich bin grundsätzlich bei Menschen so angespannt und eingeschüchtert, dass es mir schwerfällt, klar zu kommunizieren und diese Unfähigkeit macht mich wütend. Ich habe bisher leider immer angegeben mehr vom Plan gegessen zu haben, als ich eigentlich habe, um zu entsprechen. Ich war sehr positiv überrascht, dass sie nicht geschimpft haben, als ich das erzählt habe. Jetzt habe ich ein Ernährungsprotokoll bekommen, auf dem ich jeden Tag abhaken kann, was ich davon gegessen habe. Das beruhigt mich. Gestern habe ich den neuen Plan (bis auf das dritte Stück Obst und ein Joghurt) eingehalten.
Was mich außerdem sehr geärgert hat, war die Aussage, dass ich eventuell ein sedierendes Medikament brauche, da man mich am Gang ständig „wie aufgezogen“ reden hört. DABEI MACHE ICH DAS DOCH NUR AUS HÖFLICHKEIT! MACHE DAS LÄCHELN UND DEN SMALLTALK DEN ANDEREN ZULIEBE … Daher habe ich mir dann gestern gedacht: Gut – ich resigniere – versuche, nicht reflexartig zu reden – es bringt keinem was. Ich setze die Kopfhörer auf, um mich nach außen hin abzugrenzen, auch wenn ich am Handy momentan keine Musik hören kann, weil mein monatliches Internet dem Ende zu geht. Ich bin einfach sauer gewesen.
Am Abend hat meine neue Zimmerfreundin gesagt „Oh Gott!! Du isst 6 Mahlzeiten am Tag!? Dabei schaust du doch eh gut aus, im Vergleich zu manchen anderen hier …“ Das hat mich total verunsichert! Vielleicht ist der Ernährungsplan einfach nicht gut für mich und viel zu viel und UNGESUND?! Ich war nach dem besch…eidenen Tag einfach frustriert.
Um mein Tagesfeedback positiv abzuschließen: Eine Mitpatientin hat mich gelobt, als sie meine leeren Teller gesehen hat und mir (mit freundlichem Popoklopfer – das mag ich eigentlich nicht so, weil es mir unangenehm ist, wenn ich meinen nun fetteren Po fühlen muss) gesagt: Wir beide sind Powerfrauen, 20 kg mehr tuen uns gut!
Donnerstag, 1.7.2021
Liebes Tagebuch,
nach dem Frühstück fühle ich mich angenehm wohl. Zu Mittag und am Abend ist dieses angenehme Gefühl noch schwächer, aber das Frühstück funktioniert irgendwie schon ganz gut.
Später am Tag war heute die Psychotherapeutin da. Auf die Frage, wie es weitergeht, habe ich erzählt, dass mein stationärer Aufenthalt hier noch für 3 Wochen geplanten ist und daraufhin hat sie mir vorgeschlagen, ab Mitte/Ende Juli im LeLi-Tageszentrum in Betreuung zu gehen – vorerst für 5-mal die Woche. Das hat nach einem kurzfristigen Zukunftsplan geklungen und mich mit Zuversicht erfüllt, da ich in den letzten Jahren und Monaten von Tag zu Tag gelebt habe und nicht weiß, was mein momentanes Ziel ist. Der Vorschlag lautet gleich nach dem stationären Aufenthalt ins Tageszentrum zu kommen. Das wäre mir sehr recht, da ich Angst davor habe, zu Hause auf mich selbst gestellt zu sein.
Auf die Frage, warum ich mich jetzt nach dem Essen besser fühle, sagt sie, dass der Körper wie aus einer Hungersnot kommt und sich die Verdauung einmal an Nahrung gewöhnen muss, was einfach ein bisschen dauert.
Leider habe ich heute auch einige Momente gehabt, an denen ich wieder gesehen habe, dass irgendwie so vieles schief geht. Beim therapeutischen Esstisch ist meine Ärztin gekommen und hat mir gesagt, dass ich nun eine Nasensonde bekomme. Ein bisschen überrumpelt fühle ich mich schon. Seit der Dienstagsvisite ist es zwar im Raum gestanden, aber ich habe nicht erwartet, dass es von einem Tag auf den nächsten so eine Änderung geben würde. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll und zweifle, ob das gut und gesund für mich ist. Einerseits hoffe ich dadurch die Psychopharmaka, vor denen ich viel größere Sorge als vor einer Sonde habe, nicht zu bekommen. Andererseits bin ich sehr enttäuscht von mir … Ich fühle mich als Versagerin. Der Gedanke gemästet zu werden, wie damals im letzten stationären Aufenthalt, treibt mir echt Tränen in die Augen. Ich traue mich aber nicht gleich alle Emotionen zu zeigen, will vernünftig wirken und nicht, dass die anderen am Esstisch die Augen überdrehen, wenn ich da jetzt ein Drama daraus mache.
Wegen der Sondenlegung kann ich morgen leider das lang erwartete Sozialberatungsgespräch nicht führen. Ebenso entfällt das gemeinsame Kochen. Als ich versucht habe möglichst ruhig über neue Terminfindungen zu sprechen, bekam ich nur die Antwort über das Sondenlegen zu sprechen, als würde ich morgen am Vormittag einen Termin zum Kaffeetrinken haben. In Wirklichkeit sind hinter meiner Maske aber ENTTÄUSCHUNG, TRÄNEN und UNSICHERHEIT. Ich bräuchte einfach eine ehrliche Beratung und fühle mich alleine. Das ist meine Schuld, weil ich mich niemandem anvertraue. Als eine Schwester heute beim Abendessen fragte, ob bei uns im Zimmer alles ok ist, sind mir die Tränen gekommen und ich habe angesprochen, dass das alles ein bisschen überraschend für mich gekommen ist und ich gerne über die Vor- und Nachteile, den Inhalt der Sondennahrung und ob das gut und gesund für mich ist, Bescheid wüsste. Sie hat mir gesagt, dass der Grund für die Legung mein Gewicht ist, das eben in den bisherigen 6 Wochen nicht ausreichend gestiegen ist. Dass die Sondennahrung wichtige Nährstoffe und viele Kalorien enthält, und dass dadurch eine Gewichtszunahme, die ich nicht ausreichend durchs Essen geschafft habe, schneller geht. Meine Sorge ist halt, dass ich da dann wieder so hinaufgemästet werde und die Sondennahrung ungesund ist. Würde ich ein körperliches Wohlbefinden und Energie dabei verspüren, würde es mich motivieren und mir helfen, zu vertrauen. Im Moment habe ich aber eher einen Kloß im Hals (bzw. ab morgen eine Sonde, wenn wir schon beim Scherzen sind, haha…). Wofür ich mich bei meinen Gedankengängen außerdem schäme ist, dass so ein Schläucherl in meiner Nase vielleicht für etwas Aufmerksamkeit oder Mitleid sorgt und dass ich mir dann z.B. Sojamilch statt normaler Milch bestellen darf.
Ich schwanke gerade zwischen Enttäuschung und Unsicherheit. Ich weiß auch noch nicht, wie ich dem Papa das morgen möglichst so mitteilen kann, dass er sich keine Sorgen macht und gleichzeitig objektiv informiert ist. Ich will sowieso nicht Prinzessin auf der Erbse sein und denke mir jetzt gerade, dass es mir in keinster Weise zusteht, wegen solcher „Kinkerlitzchen“ ein „Tamtam“ zu machen. Es gibt erstens extrem viele Menschen, die die Versorgung dringend bräuchten und zweitens ganz viele, die eine Sonde als medizinische Maßnahme wegen einer physischen Krankheit benötigen. Mir würde es jetzt guttun, mit jemandem zu reden, aber ich schäme mich gleichzeitig auch. Wenn ich mich mit meinen Zweifeln an Papa wende, macht er sich vielleicht unnötig Sorgen und wenn ich mit dem Pflegepersonal rede, habe ich Angst, dass das so wirkt, als würde ich dem Krankenhaus und den Entscheidungen nicht trauen.
Dann habe ich noch ein schönes Erlebnis gehabt: Die Ärztin hat sich nach 20:00 Uhr noch zu mir gesetzt und versucht mir Antworten auf meine Fragen zur Nasensonde zu geben. Die Sondennahrung sei gut und ausgewogen. Vorteil ist, dass man weiß, wie viel zugeführt wird, ich könne mich also sozusagen „zurücklehnen“. Sie hat weiter versichert, dass alle Maßnahmen zu meinem Besten und keine Bestrafung sind (Sonde und Rollstuhl). Jetzt bin ich etwas beruhigter.
Freitag, 2.7.2021
Liebes Tagebuch,
heute wird mir die Nasensonde gelegt. Einmal schauen, was mich dabei so erwartet.
Sonntag, 4.7.2021
Liebes Tagebuch,
von gestern auf heute habe ich zugenommen und deshalb gehofft nur zwei statt drei Sondierungen zu bekommen, aber die Ärztin wurde nicht angerufen und deshalb bekomme ich wieder alle drei … Die erste Sondierung bekam ich von einem eher ruppigeren Pfleger (ist nicht böse gemeint). Innerhalb von 5 Minuten wurden ca. 300 ml (= 500-600 kcal) sondiert, jetzt ist mir schlecht (vielleicht spielt mir da der Kopf einen Streich). Ich traue mich aber in solchen Situationen nicht, um langsamere Sondierung zu bitten. Wenn ich mich jetzt in den Pfleger hineinversetze, tut es mir leid das geschrieben zu haben, weil ich weder misstrauisch noch nervig sein will und mich die 300-400 kcal mehr auch nicht umbringen werden.
Als ich später an diesem Tag im Rosengarten saß, habe ich mitbekommen, dass zwei (wirklich sehr liebe) Mitpatientinnen mich ansehen und über mich leise reden/tuscheln. Ich habe dann aber nur den zweiten Teil des Gesprächs mitbekommen, will nicht voreilig werten, aber ich habe jedenfalls von meiner Zimmerkollegin den Satzfetzen „isst doppelt so viel wie ich“ gehört. Einerseits bin ich dann neugierig, was andere über mich reden und bleibe manchmal mit Kopfhörern, aber ohne Musik in Hörweite oder ich versuche auf die Leute zuzugehen und ein Gespräch anzufangen. Ich denk mir, dann schließen wir Bekanntschaft, lernen uns kennen und können Missverständnisse vielleicht vermeiden. Gleichzeitig können sie dann nicht weiter ÜBER mich reden, wenn sie im selben Moment MIT mir reden 😉
ICH BIN IN EXPERTENHÄNDEN UND BIN DANKBAR DAFÜR!!! ICH BRAUCHE KEINE SORGE ZU HABEN, HAT DIE ÄRZTIN BEI DER VISITE GESAGT. Ich hoffe, ich begreife das von Tag zu Tag mehr.
Beim Telefonieren habe ich Angst das mit der Nasensonde zu erzählen. Ich hätte aber auch ein schlechtes Gewissen es nicht zu erwähnen. Ich glaube, meiner Familie den Misserfolg sozusagen „gestehen“ zu müssen. Dann wiederum fühl ich mich eingeengt und werde postpubertär bockig. Ich kann da leider noch kein Mittelmaß finden, das frustriert mich. Es wäre leichter, gespielt fröhlich beim Telefonieren mit Papa und Omi/Opi zu sein und einfach vom schönen Wetter zu reden.