Dienstag, 6.7.2021
Liebes Tagebuch,
mein gestiegenes Körpergewicht beunruhigt mich weniger, als es das vor ein paar Tagen gemacht hätte, aber so ganz glauben kann ich es auch noch nicht.
Jetzt warte ich auf die Visite. Die Sonde rutscht seit dem Frühstück wieder ein bisschen. Ich habe Angst, da nicht so ganz ernst genommen zu werden. Am Wochenende habe ich nämlich auch meine „Rutschvermutung“ geäußert und keiner hat mir wirklich zugehört. Gestern aber wurde festgestellt, dass die Sonde von 43 cm auf 58 cm tiefer gerutscht ist. Das Neukleben und Reinigen vom Nasensekret waren echt eine Wohltat für mich. Ich konnte danach richtig „durchschnaufen“ und zumindest so lange, bis das Pflaster wieder aufgeweicht war, viel leichter schlucken. Außerdem war mir auch viel weniger übel.
Heute fühle ich mich ein bisschen benommen vom vielen Essen gestern. Ich hoffe, heute weniger sondieren zu müssen.
Morgen kommt mein Papa. Mir ist es ein bisschen unangenehm, dass er mich mit „Handyladekabel in der Nase“ sieht. Das vermittelt ihm glaube ich einen schwachen Eindruck, obwohl das Gewicht momentan am Höchststand ist.
Mittwoch, 7.7.2021
Liebes Tagebuch,
am Vormittag habe ich eine Psychotherapieeinheit gehabt. Es ging darum, dass ich Bedürfnisse nicht ausdrücken kann und dies seit meiner Kindheit der Fall ist. Bei der Sozialberatung habe ich mich konkreter über Berufe, die mich interessieren und den Bildungsweg dorthin informiert. Das war sehr spannend, aber ich kann noch nicht genau sagen, was mich wirklich interessiert?
Anschließend war ich bei der ersten Corona-Impfung mit Papa. Die Impfung habe ich bis jetzt zum Glück gut vertragen. Ich glaube, er will unbedingt, dass ich so bald wie möglich gesund werde und wir einen Radurlaub machen können. Als ich ihn gebeten habe, dass er gut auf sich schauen soll, hat er ein bisschen die Nerven verloren und mir mit Nachdruck und Tränen in den Augen in lauterer Stimmlage gesagt, dass ich diejenige bin, die gesund werden soll. Beim Treffen hat er gesagt, dass er so froh ist, dass ich gut ausschaue und die Sonde ihre Wirkung zeigt. Das löst in mir Unsicherheit aus. Wir waren außerdem auf ein Getränk in einem Lokal, was ein sehr willkommener Tapetenwechsel für mich war. Dort haben wir zufällig meine Tante getroffen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Es war mir etwas unangenehm mit der Nasensonde in der Öffentlichkeit herumzugehen.
Die letzten drei Tage waren abwechslungsreich und ich bin sehr dankbar dafür. Ich durfte an einer Studie zum Thema Essstörungen teilnehmen und habe herausgefunden, dass mich Studien allgemein sehr interessieren. Ich habe gemerkt, dass ich hier in guten Händen bin, es für mich tue, es sich wirklich lohnt, die Essstörung aufzugeben und ich es schaffen kann.
Donnerstag, 8.7.2021
Liebes Tagebuch,
ich habe gerade eine wunderbare Begegnung mit einem tollen Menschen machen dürfen, die ich gerne „zu Papier“ bringen würde. Wir haben eine neue Zimmerfreundin bekommen. Als ich beim Abendessen hustete (eine Brise zu viel Pfeffer) und sie glaubte, ich habe mich wegen der Sonde verschluckt, kamen wir ins Gespräch. Sie erzählte mir, dass sie vor 6 Jahren (mit 21 Jahren) in einer ähnlichen Situation war. Sie erzählte mir von ihrem steinigen Weg, ihrem Kampf gegen die Anorexie und Bulimie, schwierigen Aufenthalten in verschiedenen Einrichtungen, schließlich von einem hoffnungsbringenden Aufenthalt, von unterstützenden, geduldigen und netten Menschen, von ihrem Umdenken und ihrem Vertrauen in die Ärzte. Sie will wieder mehr Lebensqualität spüren und meint, dass es jeder schaffen kann (in die Krankheit hinein zu kommen erfordere schließlich auch viel Kraft, daher hat ihrer Meinung nach genauso jeder die Kraft, da wieder heraus zu kommen) und dass es deswegen auch ICH schaffen kann. Dass ich mich mit mehr Gewicht wohl fühlen kann, dass sich der Körper und (mit etwas mehr Zeit) auch der Kopf daran gewöhnen. Sie hat erkannt, dass sie von ihrer Familie mit 20 kg mehr genauso geliebt wird, dass die Krankheit die Persönlichkeit raubt und Lebensqualität nimmt. Dass ich dem Fachpersonal hier vertrauen kann, da sie die Außenperspektive haben und sehen, was ich durch meine verzerrte Wahrnehmung nicht sehen kann. Wir sind hier an der Station in den besten Händen und es lohnt sich jeden Tag, den wir hier sind, zu kämpfen, denn wir machen es für uns! 🙂
Sie sagt, jeder kann vollständig genesen und sie ist selber ein leuchtendes Beispiel. Sie hat mir so richtig viel Lebensmut vermittelt. Ich ziehe meinen von Papa mitgebrachten Sonnenhut vor so viel Weisheit in so jungen Lebensjahren und bin voll dankbar für die liebe neue Begegnung!
Dann habe ich noch erfahren, dass das LeLi-Tageszentrum im Anschluss schon als Anlaufstelle auf mich wartet – das ist ein Lichtblick und ich freue mich so!
Samstag, 10.7.2021
Liebes Tagebuch,
heute bin ich weniger aufgebläht, hab etwas besser geschlafen und fühle mich daher nicht so müde bzw. nicht im „Suppenkoma“, wie einer unserer Lehrer den Zustand nach deftigem Essen immer beschrieben hat. Ich habe in der Früh mit Papa, Omi/Opi vor der Haustür telefoniert, es war angenehm kühl und sonnig. Meine Stimmung ist gut. Nach dem Frühstück bin ich im Rosengarten mit Mitpatienten gesessen und habe mich richtig wohl gefühlt (keine körperlichen Nach-Essensbeschwerden). Es geht mir körperlich gut, ich habe kein Gedankenkreisen und konnte die Scherze der Mitpatientinnen richtig genießen.
Nach der ersten Sondierung fühlt sich mein Magen sehr flau an. Wenn ich äußere, dass mir von zu schnellem Sondieren schlecht wird oder ob ich selber die Spritzen in meinem Tempo reindrücken darf, wird von manchen Pflegehelfern gesagt, dass das bei meinem Tempo ja ewig dauern würde und dass sie es besser statt mir machen. Ich kann mich dann eh hinlegen gegen die Übelkeit. Das frustriert mich ein bisschen, denn ich fühle mich missverstanden. Wenn ich sage, dass mir schlecht wird, sagen sie: „Das sind nur 250 ml. Ein Glas Saft trinkt man doch auch so schnell.“ Ja klar, Getränke kann ich ja auch so schnell trinken, aber die Sondennahrung ist eben doch ein 500 kcal schweres, dickflüssiges, galliges Gemisch und wie eine Mahlzeit, nicht wie ein Getränk. Manche hier finden aber auch die Zeit und Geduld dafür und machen das sehr angenehm. Es kommt eben immer ein bisschen darauf an, wen man erwischt.