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Montag, 12.7.2021

Liebes Tagebuch,

ich habe oft das Gefühl, dass der Darm immer voller wird und von oben trotzdem alle 2 Stunden was nachkommt. Morgen steigt das Gewicht sicher wieder steil, da ich bisher jeden zweiten Tag eine starke Gewichtszunahme gehabt habe. Geschlafen habe ich heute recht gut, fühle mich erholter als gestern und freue mich auf die Ergotherapie.

Es wäre schön, wenn das Wohlbefinden, das im Moment gerade da ist, über den Tag anhalten könnte. Ich hoffe, dass das entspannte, muntere Gefühl bleibt. Wie sieht der weitere Fahrplan für mich wohl aus? Das wüsste ich gern. Meine Omi sagt mir, dass ich einfach nachfragen muss wie es weiter geht, aber ich trau mich nicht immer, da ich Angst habe, dass das dann als zwanghaftes Nachfragen interpretiert wird.

Montag, 12.7.2021 (Abend)

Liebes Tagebuch,

heute melde ich mich noch einmal voller Dankbarkeit am lauen Sommerabend. Bei der Visite habe ich erfahren, dass ich weiterhin zwei Sondierungen täglich bekommen soll (Insgesamt 1000 kcal. Jetzt habe ich es wieder genau beschrieben, aber keine Sorge, heute dreht sich ausnahmsweise mal nicht alles um Gewicht und Kilokalorien). 

Meine zweite Sondierung habe ich heute mit einem Gespräch mit dem Sozialarbeiter verbinden können, es war somit ein „Sondierungsgespräch“ 😉 Thema waren allerdings keine EU-Beitritts- sondern Studienanfangspläne. Der Kognitionstest hat ergeben, dass ich durchschnittliche kognitive Fähigkeiten habe, Sprachverständnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit sind im oberen Durchschnitt, logisches-räumliches Denken allerdings im unteren Durchschnitt. Er empfiehlt mir also etwas mit Sprachen und „Auswendiglernen“, weniger mit räumlichem Vorstellungsvermögen wie es beispielsweise bei Architektur notwendig ist.

Eine Interessenstestung im Internet hat ergeben, dass die Berufsbereiche „Bildung und Soziales“, „Medizin und Pflege“ und „Design“ zu mir passen würden. Wir kamen dann im Gespräch auf das Studium Lehramt an der Uni, da muss ich mich allerdings über das Curriculum informieren. Spannend wäre Spanisch und eventuell Psychologie? 

Nach diesem Gespräch war ich richtig beschwingt und das nicht nur, weil ich über die Kopfhörer eine Dröhnung „Don’t stop me now“ von Queen gehört habe. Ich habe den Eindruck gehabt, dass sich ein paar meiner Wünsche, mit denen ich hergekommen bin, erfüllt haben. Im Moment brauche ich keine Psychopharmaka zu nehmen, ich habe ein bisschen mehr zur Berufsorientierung erfahren, ich schlafe recht gut, ich kann besser wahrnehmen und fühlen, hab in der Ergotherapie verschiedene Tätigkeiten mit mehr Konzentration ausprobiert und kann mich ein bisschen besser abgrenzen.

Am Abend bin ich mit Mitpatienten im Rosengarten gesessen und mir wurde erstmals bewusst, dass andere auch einen sehr großen „Rucksack“ zu tragen haben. Beispielsweise schwere Psychosen, schwerer Alkohol- und Medikamentenmissbrauch oder traumatische Kindheitserfahrungen. Und was ist mein Problem? Salopp gesagt: Ich flenne bei einem faschierten Braten – lächerlich sowas. Ich kann es nicht konkret beschreiben, aber irgendwie kommt zwischendurch beim Schreiben und Musikhören das Gefühl durch, wie ich mich mit 15/16 Jahren gefühlt habe. Ich weiß gleichzeitig, dass dieses Gefühl mit der nächsten Alltagshürde wieder verblassen wird, aber ich hoffe, es bleibt einfach noch. Ich wünsche mir, dass dieses authentische Charakterflämmchen irgendwann zum Lagerfeuer wird.

Mit diesem guten Gefühl kleiner Fortschritte (ich traue mich nicht es zu verschreien, morgen ist meine Ärztin wieder im Haus, ich weiß nicht, wie un/zufrieden sie mit mir sein wird) trete ich jetzt, so wie meine Schwester das gestern formuliert hat, den „Matratzenhorchdienst“ an und gehe schlafen.

Mittwoch, 14.7.2021

Liebes Tagebuch,

bei der Visite war meine Ärztin sehr zufrieden. Ich fühle mich mit der Gewichtszunahme miserabel, schwer, träge, vollgestopft, schlecht 🙁 Das wirkt sich auf meine Stimmung aus. Ich fühle mich antriebslos und denke mir, dass ich gar nix kann. Ich bin momentan auch nicht gesprächig, da ich meist zum Weinen anfange beim Reden und diese Schwäche nicht zeigen will. 

Ein Erfolg war, dass ich heute die Psychotherapie mit dem Sondieren verbinden durfte. Die Psychotherapeutin hört zu, versucht Gründe für meine Gefühle aus der Kindheit zu finden und will auf Selbsterkenntnis setzen. Als ich erwähnte, dass ich mich nicht krank sehe und auch bei früheren Aufenthalten von Tag zu Tag gelebt habe, ohne, dass ich mir bewusst gemacht habe, dass ich wegen einer Essstörung in einem stationären Aufenthalt bin, hat sie entgegnet, dass ich jetzt aber zusätzlich künstlich ernährt werde. Mit meinem jetzigen Gewicht fühle ich mich nicht krank, wahrscheinlich auch deshalb, weil ich immer nur meinen momentanen Zustand als Dauerzustand wahrnehme. Mit meinem niedrigsten Gewicht war es irgendwie normal, dass beispielsweise das Duschen anstrengend ist. Jetzt kann ich mir nicht vorstellen, wie es sein kann, dass man eine Flasche nicht selbstständig aufbekommt. 

Bei der Visite hat meine Ärztin anklingen lassen, dass ich vielleicht nächste Woche entlassen werde. Das macht mir Angst, da ich nicht weiß, wie es mir mit meinen Gedanken daheim gehen wird. Was habe ich mir bis jetzt von diesem Aufenthalt mitnehmen können? Ich wollte mich selbst besser kennenlernen. Schwungvolle Musik gefällt mir, habe ich herausgefunden. Ein mögliches Studium wäre vielleicht Lehramt? Vielleicht habe ich mir ein kleines Stück weit mitgenommen, es muss mir erst ganz bewusstwerden, dass ich Anorexie habe. An Alltagstätigkeiten habe ich zumindest Bügeln ausprobiert, Brot gebacken und einige Gerichte relativ selbstständig gekocht. An Skills nehme ich mir vielleicht das Musikhören mit, sowie Bänderknüpfen und Korbflechten. Wenige Male habe ich mich ein bisschen abgrenzen können, aber meine „Freundlichkeitsmaske“ und die Hemmung Wünsche auszusprechen, sind schon noch sehr präsent. Nächstes Ziel ist es ohne zusätzliche Kilokalorien auszukommen. Das heißt der nächste Schritt wäre es, die Sonde wegzubekommen. In gut gelaunten Momenten würde ich dann gerne mit der (natürlich vorher in Alkohol eingelegten) gezogenen Sonde ein modernes Stillleben kreieren. Stillleben enthalten, soweit ich weiß, meist Symbole wie Obstschalen oder andere Nahrungsmittel. Wäre ein 3D-Stilleben mit Sondennahrung nicht mal was Neues? Ein „Stillleben 2.0“? 😉

Wo ich gerade am Träumen bin, wünsche ich mir mit Papa auf einen kleinen Berg zu gehen. Nun ja, ein Hügel reicht für den Anfang auch schon. Dieses Symbol zieht sich irgendwie durch meinen Aufenthalt. Meine Kollegin, die ich wegen ihrer Reife und ihres Genesungswillen sehr bewundere, habe ich geistig auf dem Gipfel meiner „Essstörungszeichnung“ platziert und meine liebe Zimmerfreundin, die schon so viel geschafft hat, hat gesagt, ihren „Jetzt habe ich es geschafft“-Moment hatte sie bei einer Wanderung mit einem guten Freund. Ich würde mir wünschen, auch einmal so einen Befreiungs-Moment erleben zu dürfen.

Donnerstag, 15.7.2021

Liebes Tagebuch,

von gestern auf heute ist das Gewicht stabil geblieben, daher darf ich bei der Sondierung auf 500 kcal zurückgehen. Darüber war ich bei der Visite echt erfreut. Außerdem darf ich bei der langsamen Spaziergruppe dabei sein, das freut mich auch sehr. Bei der Blutabnahme klappte es heute auf Anhieb, sodass ich nach 5 Minuten wieder draußen war, anstatt nach einer Stunde erfolglosen Versuchen frustriert zu sein. Dann war ich in der Ergotherapie, wo ich den Korb geflochten habe. Meine Kollegen lobten mich, wie viel Geduld ich damit habe und dass es nicht perfekt werden muss. Das freut mich und ermutigt mich, da sonst ich immer die bin, die anderen gut zuredet. 

Bei der Visite hat eine Mitpatientin zu mir gesagt: „Dir geht es gut, oder?“ Das bezieht sie wahrscheinlich auf meine Gewichtszunahme und ist mir sehr unangenehm. Jetzt fühle ich mich noch fetter und klobiger und schwerer. Ich kann mit einem Lächeln die innerlichen Tränen und Frustration aber überblenden. Ist das gut?

Im Anschluss habe ich mit der Diaetologin gesprochen. Sie hat mir gesagt, dass sie mir keine Liste mit gesunden Lebensmitteln geben kann, da gesund abwechslungsreich bedeutet. Aus diesem Grund ist von allem etwas auf der Ernährungspyramide abgebildet.

Ein Erfolgserlebnis: Ich habe seit einigen Tagen den Wunsch eine Sondierung, sofern der Nährstoffgehalt gleich ist, durch Trinknahrung zu ersetzen, da ich das dann z.B. während der Hundetherapie machen kann. Das durfte ich und ich hätte mir vor der Nasensonde nicht vorstellen können, mich über die Trinknahrung jemals zu freuen, aber im Vergleich zum Sondieren ist so eine Vanille-Trinknahrung schon herrlich. Bei der Hundetherapie ging es um Abgrenzung und No-Go-Sätze, die bei Essstörungspatienten manchmal ein ungutes Gefühl auslösen. Bei mir ist das der Satz „Gut schaust du aus.“ Da könnte man mir genauso gut sagen: „Boah, du hast aber viel zugenommen, deine Wangen sind pausbäckig. Also an Nahrungsmangel leidest du offensichtlich nicht. Du lässt es dir aber gut gehen und gönnst dir viel, oder?“ Ich kenne diesen Satz halt aber nur im Kontext, wenn mein Papa stark übergewichtige Menschen sieht und sagt: „Boah, der schaut aber gut aus, der lässt es sich in letzter Zeit ja ganz schön gut gehen.“Schließlich habe ich die Mitpatientin, die zu mir sagte „Dir geht’s auch gut, oder?“ auf diese Aussage angesprochen, nachdem ich mir mit meiner Trinknahrung Mut angertrunken hatte 😉 Ich habe gefragt, woran sie das „Gutgehen“ festmache bzw. woran sie das merke. Sie sagte: „An deinen strahlenden Augen und deinem entspannten Gang.“ Das geklärt zu haben war ein gutes Gefühl. Es kostet mich sehr viel Überwindung auf Menschen zuzugehen, aber ich habe es heute einfach gemacht.

Freitag, 16.7.2021

Liebes Tagebuch, 

meine Ärztin hat gesagt, ab heute KEINE SONDIERUNG!!! Sie sagt, sie wäre sehr glücklich, wenn ich das Gewicht übers Wochenende halten würde. Ich bin echt froh, dass die Sondierung wegfällt, da das schon immer viel Zeit in Anspruch nahm.

Meine Gedärme fühlen sich dauerhaft voll an, ich habe während des ganzen Aufenthalts trotz keines Hungergefühls meist aufgegessen, da ich mich immer rechtfertigungspflichtig und überwacht fühle. Früher (zu Hause) habe ich „mit dem Kopf“ und selten „mit dem Bauch“ gegessen. Hier esse ich trotzdem auch mit dem Kopf, ohne zu fühlen. Ich esse bis der Teller leer ist, obwohl ich schon satt bin, weil ich das Gefühl habe das tun zu müssen.

Schließlich habe ich heute meinen ersten Morgenspaziergang genossen und einen symbolischen Erinnerungsstein, so wie es mir meine liebe Zimmerfreundin empfohlen hat, zum Bemalen mitgenommen. 

Anschließend war ich in der Ergotherapie, war etwas müde, hab ein bisschen am unförmigen Körbchen weitergeflochten und war die Sonde pflegen. Die Schwester meinte, ich soll mich brav an den Ernährungsplan halten, damit die Sonde kommende Woche entfernt wird.

Eine Kollegin hat mir gesagt, dass ich ZWISCHEN MEINER PERSÖNLICHKEIT UND DER STIMME DER ESSSTÖRUNG UNTERSCHEIDEN SOLL. AUßERDEM IST ES HILFREICH, SICH ABZULENKEN DURCH BASTELN ODER MUSIK HÖREN. Ihre ermutigenden Worte waren auch, dass das Leben aus mehr als Kalorien-Zählen und sich etwas zu verbieten besteht und dass ich auch mit 5-10 kg mehr auf den Rippen geliebt werde.

Samstag, 17.7.2021

Liebes Tagebuch,

heute war das Frühstück im Speisesaal. Da esse ich grundsätzlich langsamer als alleine. Es war regnerisch und gemütlich. Ich habe es genossen. 

Ich freue mich aufs Wochenende und darauf Musik zu hören. Ein bisschen im Hinterkopf ist halt das Gewicht. Die Ärztin hat gesagt, sie ist sehr zufrieden, wenn es übers Wochenende erstmals ohne Zusatz (Sondieren) gleichbleibt. Ich habe Angst, weil das Gewicht heute ein bisschen runter gegangen ist. Gleichzeitig fühle ich mich dadurch gut und nicht so voll, das ist halt immer dieser Zwiespalt. Ich würde mir wünschen, das „Ladekabel“ bald aus der Nase zu bekommen.Ich hoffe, so lange wie möglich das Angebot hier nutzen zu dürfen und noch ein bisschen dazubleiben, um mich seelisch auf die Welt da draußen und den Alltag vorbereiten zu können.

Sonntag, 18.7.2021

Liebes Tagebuch,

bei der Pflegevisite wurde ich nach meinem Zielgewicht gefragt. Ich habe gesagt, dass ich mit dem Zunehmen WOLLEN große Probleme habe. Vor der Zunahme hier sei mein Gewicht lebensbedrohlich gewesen. Jetzt bin ich nicht mehr im lebensbedrohlichen Bereich, aber es sei immer noch ein weiter Weg bis zum Normalgewicht. 

Im Moment habe ich ziemlich Halsweh nach dem Essen wegen der Sonde im Hals, aber ich habe trotzdem großen Appetit. In der Früh bin ich meist eher gut gelaunt, wenn die Waage keine sprunghaften Anstiege vermerkt und ich das Frühstück vor mir habe. Dann werde ich tendenziell müde über den Tag. Jetzt habe ich gerade ein Nachmittagstief, aber ich hoffe, mit Musik dagegen ankämpfen zu können – und mit Kaffee 🙂