Montag, 2.8.2021
Liebes Tagebuch,
in der Reflexionseinheit nach dem Mittagessen haben wir uns die 3 PRINZIPIEN DER KÖRPERARBEIT angesehen: 1.: DER KÖRPER IST ZUM LEBEN DA, 2.: KEINE EILE, 3.: KEINE BEWERTUNG. ALLES DARF SEIN. AUCH NEGATIVE GEFÜHLE.
Außerdem habe ich mir Skills zum Ablenken vom Gedankenkreisen nach dem Essen angeeignet: Musikhören, lesen, basteln, knüpfen. Ich glaube, mir hilft eher etwas, wo ich mit den Händen und dem Kopf gleichzeitig aktiv sein muss.
Anschließend haben wir zwei Briefe von einer Kollegin an die Magersucht als Freundin und als Feindin gehört. Vorteile der Magersucht: Ablenkung von Problemen, Gefühl der Kontrolle und Aufmerksamkeit. Die Nachteile der Magersucht sind zum Beispiel der soziale Rückzug, der Zeitaufwand und dass der Körper kaputt wird.
ICH SOLL MIR DEN ENTSCHEIDUNGSDRUCK BEI DER STUDIENWAHL RAUSNEHMEN. NICHT VOREILIGE ENTSCHEIDUNGEN WEGEN DER AUFNAHMEFRIST MACHEN. ERST EIGENE PROBLEME IN DEN GRIFF KRIEGEN. ZUERST DIE GESUNDHEIT IN DEN GRIFF KRIEGEN.
ICH ESSE, UM ZU LEBEN.
ICH HABE ES VERDIENT ZU LEBEN UND ZU ESSEN – DAS FINDE ICH UNGLAUBLICH BERÜHREND UND ICH BIN DEN TRÄNEN NAHE. BIS DAS ALLES IM VERSTAND ANKOMMT, AUCH WENNS HIER IN GROSSBUCHSTABEN STEHT, DAUERT DAS GLAUBE ICH LEIDER NOCH!
Dienstag, 3.8.2021
Liebes Tagebuch,
in der Früh habe ich einen Blutuntersuchungstermin gehabt und ein diensthabender Arzt hat mir kurz erklärt, was die Hieroglyphen am Blutbefund der letzten Woche bedeuten. Die Sternchen innerhalb der Klammern bedeuten „im Normbereich“. Die weißen Blutkörperchen sind bei mir etwas erniedrigt durch die Anorexie. Das Gesamteiweiß ist niedrig. Die Leber- und Nierenwerte sind in der Norm.
Im LeLi angekommen stand dann das Wiegen am Programm. Die Gewichtszunahme von 900 g waren ein bisschen unangenehm für mich. Meine Sorge ist halt, dass das dann von Tag zu Tag so schnell geht und ich zu schnell zunehme. Wie damals, als ich mit 18 Jahren so schnell durch Einsamkeits- und Depressionsessen zugenommen habe und ich dann überall bei den Türstöcken angestoßen bin, weil ich den Körperumfang nicht gewohnt war. Es wurde mir aber gesagt, DASS AB EINEM GEWISSEN PUNKT DIE GEWICHTSZUNAHME NICHT MEHR SO SCHNELL GEHEN WIRD, aber mein Körper sich jetzt einfach im Notstand befindet.
Die gute Nachricht ist, dass ich weiterhin ins LeLi kommen darf. Hier kann ich ein Stück Alltagsstruktur lernen, die ich sonst vielleicht bei meiner Mama gelernt hätte. Es ist so, als hätte ich auf gewisser Weise (bei Fragen zum Drucker, beim Ansprechen von Sorgen, bei Fragen zu gesunder Ernährung oder zur Zubereitung von Lebensmitteln, etc.) plötzlich viele „Ansprech-Mamis“ 🙂
Donnerstag, 5.8.2021
Liebes Tagebuch,
an dieser Stelle will ich wirklich aus ganzem Herzen DANKE AN DAS LIEBE LELI-TEAM, sagen. Es ist fast wie ein Stück nach Hause kommen, wenn ich in die Gästepatschen steige und so lieb begrüßt werde. Das erinnerte mich ein bisschen an das gemeinsame Wohnungseinrichten mit meiner Mama – der Möbelstil, der Duft von Basmatireis (den kochte meine Mama oft), die Musik … Ihr habt wirklich eine so angenehme heimelige Atmosphäre geschaffen!!
Ich weiß, ich wirke durch mein Gejammer oft undankbar und trau mich während des Essens die Speise nicht zu loben, weil ja besprochen wurde, am Esstisch nicht über das Essen zu reden und weil ich Angst habe, dass ich dann noch eine größere Portion bekomme. Objektiv aber, ohne die Essstörungsstimme, die ich zumindest minutenweise stilllege, bin ich wirklich dankbar und weiß es sehr zu schätzen.
Gestern konnte ich beim gemeinsamen Kochen nicht dabei sein. Das ist für mich immer eine doppelte Herausforderung, weil ich einerseits blind vertrauen muss und nicht weiß, wie viel Creme fraîche oder Öl in der Speise ist. Das ging zum Beispiel daheim 2 Jahre lang gar nicht, sodass ich bei Omi und Opi immer extra für mich gekocht habe. Gestern habe ich VOLLKOMMEN BLIND VERTRAUT und war dementsprechend etwas stolz auf mich!
Bei der anschließenden Reflexion ging es uns allen zum Glück relativ gut. Wir stellten fest, dass uns ähnliche Gedanken und Sorgen begleitet hatten (Creme fraîche, Öl, Reis, Kohlenhydrate) und dass sich bei vielen von uns die Anspannung im Rumpf bemerkbar machte.
Nach weiterer freier Zeit haben wir eine Achtsamkeitsgruppe gemacht, wo wir ein bisschen meditiert haben und ich gemerkt habe, dass die Gedanken angenehm abschweifen. Anschließend haben wir ein kleines Dankbarkeitsbüchlein gebastelt und ich habe es sogar geschafft ein paar Dinge für mich zu finden. Ich habe auch einen Dankbarkeitsbrief an meinen Papi angefangen, ich will ihn gerne fertig schreiben. Vielleicht finde ich den Mut, ihn ihm am Wochenende zu geben. In meinem Kopf hat sehr wohl auch anderes als das Thema „Essen“ Platz, allerdings selten wie ich zugeben muss.
Freitag, 6.8.2021
Liebes Tagebuch,
die Sonne geht wunderschön rot-orange auf und die Luft ist frisch vom Regen. Es duftet nach Laub vom Wald her – das ist ein schöner Start in den Tag. Heute habe ich den ersten Tag sozusagen „eigenverantwortlich“ im Wohnheim verbracht, da im LeLi-Tageszentrum heute die Pressekonferenz stattfindet (Ich drücke dem ganzen Team fest die Daumen). Das war ein bisschen eine Herausforderung mit dem Antrieb, weil ich, wenn ich keine konkrete Aufgabe bzw. keine Termine habe, schwer Antrieb finde. Ich habe versucht trotzdem früher aufzustehen und frühstückte gemütlich, ordnete eine Schreibmateriallade und dann war es eh schon Zeit zum Kochen. Ich tu mir da noch mit dem Timing ein bisschen schwer, das heißt, ich habe das Gefühl, die Tätigkeiten nicht gut einteilen zu können. Während der Fisch zäh wird, brennt das Gemüse an, etc. Letztendlich hat es aber sehr gut geschmeckt, wobei ich mir nicht sicher war, wie viele Kartoffeln ich für eine Portion kochen soll. Nach dem Essen war ich sehr müde.
Schließlich bin ich mit der Nachmittags-Trinknahrung auf den Schlossberg spaziert. So habe ich zumindest den Eindruck, die Zeit der Nahrungsaufnahme noch nutzen zu können. Beim Spazieren habe ich die Achtsamkeitsübung gemacht und versucht die Vogel- und Menschenstimmen zu hören, den Boden zu spüren, die Luft zu spüren …
Sonntag, 8.8.2021
Liebes Tagebuch,
das vergangene Wochenende stand unter dem Motto „FAMILIEN-TREFFEN“. Wenn ich es einfach mit ein paar Wörtern beschreiben würde, wären das: Etwas Anspannung bei gewissen Kommentaren, klärendes Gespräch, gut aufgehoben sein in der Familie, kleine Mut-Rückschläge, Dankbarkeit für die Familie.
Am Sonntag hat mich Papa am Vormittag abgeholt und wir haben über meine Sorge, dass meine Schwester nicht regelmäßig isst gesprochen und sie daraufhin auch besucht. Sie hat sich vor drei Jahren in einer psychisch schlechten Phase befunden, sich zwei Wochen ohne Essen in ihrer Wohnung verschanzt und ist dann ganz abgemagert und geschwächt zu uns gekommen. Das war für mich wirklich schrecklich.
SIE HABEN MIR GESAGT, SIE WOLLEN, DASS ES MIR GUT GEHT. ICH SOLL AUF MICH SCHAUEN. ICH KANN GUT AUF MICH SCHAUEN, WENN ICH WEISS, DASS ES MEINEN LIEBEN GUT GEHT UND ICH MIR KEINE SORGEN UM DEREN WOHLBEFINDEN MACHEN MUSS!